Schöne Buchstaben malen bringt für eine gute Handschrift gar nichts? Buchstaben möglichst genau zu kopieren ist für die Entwicklung einer lesbaren, eigenen und effizienten Handschrift unserer Grundschulkinder nicht nur nicht sonderlich sinnvoll, sondern im schlimmsten Fall sogar hinderlich. Das ist die These eines Wissenschaftlers, der sich als Motorik- und Handschriftexperte seit Jahren mit dem Thema beschäftigt.
„Der Schüler hält bei den Buchstaben nicht immer die Zeilen ein“ so steht es wahrscheinlich bei vielen Kindern der ersten und zweiten Klassen im Zeugnis. Da plagen sich die Kleinen mit Bleistift oder später Füller, um die Zeichen genauso schön hinzubekommen, wie es in der Vorlage steht – nur um später in ihrer eigenen Handschrift ganz anders zu schreiben.
Interessante Langzeitstudie
Dr. Christian Marquardt, langjähriger Mitarbeiter der Forschungsgruppe klinische Neuropsychologie an der Universität München, hat in einer Langzeitstudie Grundschulkinder und die Entwicklung ihrer Handschrift von der ersten bis zur vierten Klasse begleitet und dabei immer wieder ihre Schrift getestet. Er untersuchte mit einem speziellen Computer-Tablet einzelne motorische Aspekte wie der Druck auf den Stift, die Beweglichkeit des Handgelenks und der Finger sowie die Schnelligkeit beim Schreiben kurzer Sätze.
Was ist eine gute Handschrift?
All dies mit der Fragestellung, wann und wie die Kinder eine effiziente Handschrift entwickeln, so wie Erwachsene. Das bedeutet, eine Handschrift, die lesbar ist und gleichzeitig so schnell, dass Schüler – beispielsweise bei Diktaten – keine Schwierigkeit haben, mitzukommen. Außerdem soll das Schreiben eine rhythmische Bewegung ergeben. Schreiben soll automatisch im Gehirn abrufbar sein, um bei Denkprozessen nicht zusätzliche Kapazität zu besetzen (Automatisierungsgrad) – also beispielsweise im Diktat der Grund für flüchtige Rechtschreibfehler werden, da das Kind zu sehr mit „Schönschreiben“ beschäftigt ist.
Schreiben lernen ist eine motorische Leistung
Die Ergebnisse der Studie waren ernüchternd. Auch nach der vierten Klasse hatten die Kinder erst 62% der Effizienz einer erwachsenen Schrift erreicht. Die Kennzahlen einer erwachsenen Handschrift erreichen Kinder erst, wenn sie selbst schon keine mehr sind: Also mit circa 16 Jahren. Wie kommt dies, da sie doch so lange geübt hatten, die ideale Ausgangsschrift (sei es die Schulausgangsschrift, die Ausgangsschrift oder die Vereinfachte Ausgangsschrift) zu kopieren?
Lernen durch Ausprobieren
Der Motorik-Experte hat dazu eine Antwort: Schreiben ist eine Bewegung, und Bewegung ist etwas, dass man durch möglichst häufige Ausführung erlernt, so der Wissenschaftler im Familothek-Interview. Der Körper erlernt eine individuell perfekte Bewegung, indem er diese immer wieder neu versucht, um den idealen Bewegungsablauf für sich selbst zu finden. Wenn Kinder laufen lernen, probieren sie eine Menge aus: Erst einmal mit festhalten, später vielleicht breitbeinig oder schwer stapfend – um dann später ihren eigenen individuellen Gang zu entwickeln.
Auf das Schreiben lernen übertragen bedeutet das: Kinder sollen natürlich die Grundformen der Buchstaben erlernen und kopieren – müssen aber mehr Spielraum haben, um ihre eigene Ausprägung dieser Buchstaben lernen zu können.
Das Ziel: Die eigene gute Handschrift
In ihren Versuchen entdeckten die Wissenschaftler, dass die Geschwindigkeit der Schrift bei geschriebenen Sätzen und der sogenannte Automatisierungsgrad zu Beginn der dritten Klassen stagnierte. Warum dies, hatten doch die Kinder jetzt schon zwei Jahre lang schreiben geübt? Zu Beginn der dritten Klasse gibt es keine vorgegebenen Texte mehr, die Kinder sollen auf einmal schnell und effizient schreiben. Doch dann beginnen sie erst, ihre individuelle Schrift zu entwickeln. Kontrovers formuliert kann man sagen, dass das genaue Kopieren von vorgegebenen Buchstabenformen – egal welcher – die Entwicklung einer eigenen Handschrift verhindert und damit das Schreiben lernen für unsere Kinder künstlich verlangsamt.
Ein Tipp zum Ausprobieren und um das Thema zu verdeutlichen: Machen Sie sich einmal den Spaß und versuchen Sie, wieder wie ein Grundschulkind zu schreiben: Also genauestens vorgegebene Buchstaben zu kopieren. Sie werden sehr schnell merken, was hier gemeint ist!
Was sind Ihre Erfahrungen und Meinungen zum Thema?
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Der Wissenschaftler: Dr Christian Marquardt, Motorik- und Handschriftexperte, langjähriger Mitarbeiter der Forschunsggruppe klinischer Neuropsychologie München, Entwickler verschiedener Systeme zur Bewegungsanalyse, Gründer einer Firma zur Bewegungsanalyse im Golfsport www.scienceandmotion.de. Zahlreiche Fachveröffentlichungen, Seminare und Fortbildungen im Bereich Schreiben, motorisches Lernen, Training und Bewegungsanalsye.
Ich bin sehr froh, Ihren Artikel „Schreiben lernen statt Schönschrift“ gefunden zu haben. Das war genau, was ich gesucht habe, damit ich meine Tochter in Ihren Anfängen unterstützen kann. Sie ist begeisterte, wenngleich sehr sehr junge, Schulanfängerin. Sie merkt aber genau, dass sie nicht „so schön“ schreibt, wie viele Freundinnen und das setzt ihr zu (mir auch, weil sie mir leid tut und ich nicht möchte, dass sie ihre Freude schon so früh verliert). Ich werde jetzt die spielerischen Tipps umsetzen, die langfristig sicher positiv auf ihr Schriftbild wirken und vor allem ihre Schrift nicht mehr kommentieren …dann hoffe ich, dass Zeit und Motivation für uns arbeiten 🙂